Das neue Bio

Eine Dachmarke für deutsche Wiederverwender

Düsseldorf/Herford, 15.09.2021 • Als fester Bestandteil der kommunalen Entsorgungskette kann der Secondhand-Handel helfen, in großem Umfang Ressourcen und Energie einzusparen. Um einheitliche Standards für die Branche voranzubringen und ihre Sichtbarkeit zu stärken, arbeitet der WIR e.V. aus Herford an einer Dachmarke mit entsprechender Zertifizierung. Das Vorhaben wird durch das Sonderprogramm Umweltwirtschaft des NRW-Umweltministeriums gefördert und zusammen mit dem Wuppertal Institut durchgeführt.

Zirkuläre Wirtschaft, Cradle-to-Cradle, Ressourceneffizienz – all diese Ansätze werden weltweit genutzt und weiterentwickelt, um wertvolle Rohstoffe und endliche Ressourcen zu sparen und zu erhalten. Das gute alte Secondhand-Kaufhaus wirkt im Vergleich zu diesen Konzepten und den großen Playern des Einzelhandels zunächst irritierend altmodisch. Doch der Eindruck täuscht – Secondhand macht sich auf den Weg aus der Nische. Was läge also näher, als das Ganze systematisch weiterzuverfolgen?

„Es geht uns um eine bundesweite Dachmarke für Secondhand-Kaufhäuser“, sagt Claudio Vendramin, Vorstand im WIR e.V. und im Herforder Arbeitskreis Recycling, der das Projekt ins Leben gerufen hat. „Daran gekoppelt ist eine Zertifizierung, um die Qualität sicherzustellen, unsere Warenströme zu verbessern und unseren Kundinnen und Kunden insgesamt ein hochwertiges Angebot machen zu können. Nicht zuletzt greifen wir damit einen Vorschlag aus Brüssel auf. Dort gibt es bereits eine Vereinigung aller europäischen Dachmarken, die auf eine Beteiligung aus Deutschland wartet.“

Secondhand als neue Entsorgungsstufe

Secondhand – muss man wissen – ist für Vendramin nicht An- und Verkauf, Antiquariat oder der Handel per Kleinanzeige. Mit Secondhand ist etwas anderes gemeint: Neben der Bezeichnung Re-Use steht der Ausdruck für die Wiederverwendung von brauchbaren Dingen, die eben nicht mehr verkauft oder verschenkt werden. „Es geht ausdrücklich darum, dass alles was im Laden steht, ansonsten weggeworfen worden wäre“, bringt Vendramin die Sache auf den Punkt. Diese Waren wieder in den Nutzungskreislauf zu bringen, sorgt einerseits dafür, dass kein neues Produkt hergestellt werden muss. Andererseits wird der Energieaufwand eingespart, der zur Entsorgung nötig geworden wäre. Ein Doppelsieg im Sinne der Ressourcenschonung.

Um das Re-Use-Prinzip in die Breite zu tragen, bietet es sich an, die Wiederverwendung im Ablauf der kommunalen Entsorgungsunternehmen fest einzuplanen. „Wir wollen eine Art Filter sein, sodass der Müll nicht direkt ins Recycling geht, sondern eine Re-Use-Stufe vorgeschaltet wird“, beschreibt Vendramin. Dazu ist eine Zusammenarbeit mit den Gemeinden und öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern wichtig. Hier kommt nun die Zertifizierung ins Spiel. „Langfristig möchten wir erreichen, dass unter unserer Dachmarke zertifizierte Unternehmen nach bundesweitem Standard automatisch für die Zusammenarbeit mit den kommunalen Entsorgern akkreditiert sind. Solche Modelle gibt es z.B. bereits im belgischen Flandern. Auch die EU fordert in der Abfallrahmenrichtlinie akkreditierte Re-Use-Zentren.“

Es ist ein großes Rad, das Vendramin und der WIR e.V. da drehen möchten. Neben Flandern gibt es auch in Teilen der Niederlande und in Österreich regionale Dachmarken. Eine Re-Use-Dachmarke mit einheitlicher Zertifizierung für ganz Deutschland zu etablieren, ist da schon eine andere Größenordnung. Dennoch orientiert sich das Projekt an seinen europäischen Vorbildern. Das betrifft die Idee an sich, aber auch viele Details, in denen man sich verbessern kann. „Wir verstehen uns als als Know-how-Provider für Mitglieder und Dritte, zum Beispiel die Kommunen. Wir möchten die Branche insgesamt voranbringen“, sagt Vendramin.

Know-how und Standards für eine aufstrebende Branche

Die geplante Zertifizierung umfasst verschiedene Faktoren wie die Gemeinwohlorientierung, Warenannahme, den Verkauf im Ladengeschäft oder das Marketing. Der Bedarf nach Standards ist hoch. Zum Beispiel sind die Kommunen verpflichtet zu dokumentieren, welche Menge an ehemaligem Müll wiederverwertet wurde. Doch diese Menge korrekt zu erfassen, ist problematisch, wenn der Laden voller Einzelstücke steht. „Bei uns gibt es jedes Buch, jedes Kleidungsstück und jedes Möbel nur einmal. Wenn die Ware hereinkommt, können wir das alles wiegen und dokumentieren. Aber bei jedem verkauftem Teil an der Kasse würde das einfach zu lange dauern“, erklärt Vendramin. Eine praxisnahe Lösung wurde daher zusammen mit dem Wuppertal-Institut erarbeitet: Im Kassensystem des Re-Use-Kaufhauses werden dabei Durchschnittsgewichte für alle Warengruppen hinterlegt, sodass eine genaue Verkaufs-Statistik erstellt werden kann.

Testkäufe im Dienste der Qualitätssicherung

Der Wunsch nach einheitlichen Standards ist auch deshalb groß, weil die Branche bislang eher durch Einzelpersonen als durch große Player und Konzerne gekennzeichnet ist. Betreiberinnen und Betreiber sind wie ihre Ware – Einzelstücke. Im Einzelhandel – stationär wie online – punktet aber der Anbieter bei Kundinnen und Kunden, der verlässlich die gewohnten Standards erfüllt. Daher Vendramins Idee, mehr Know-how aus dem Einzelhandel in die Re-Use-Geschäfte zu transferieren und regelmäßige Audits durchzuführen. Ein Angebot, das schon jetzt auf großes Interesse unter den Mitgliedern trifft. „Wir wollen regelmäßig Mystery-Shopping durchführen, also Testpersonen zum Einkaufen in die Läden schicken, die dann den Laden anhand eines detaillierten Prüfkatalogs bewerten“, sagt Vendramin. Der Prüfkatalog wurde durch die Branchenpartner in Flandern inspiriert. Er beinhaltet allgemeine Einzelhandelsthemen und geht auch speziell auf die Anforderungen in Secondhand-Geschäften ein. Von Barrierefreiheit des Ladenlokals über die Warenpräsentation bis zur Verabschiedung der Kundinnen und Kunden wird ein ganzes Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten nach objektiven Standards überprüft und auch anhand von Fotos dokumentiert. Im Anschluss daran wird ein ausführliches Auswertungsgespräch mit der Ladenleitung geführt. Zusätzlich werden die Ergebnisse digital aufbereitet und auch online zur Verfügung gestellt. Nach Wunsch können diese auch anderen teilnehmenden Läden einsehen. „Wir haben bereits ein Mystery-Shopping unter unseren Mitgliedern durchgeführt und das Interesse daran war wirklich groß. Auch die Bereitschaft, die Ergebnisse mit den anderen Mitgliedern zu teilen, war durchgängig hoch.“

Das Sonderprogramm Umweltwirtschaft fördert den Aufbau von Standards

Im Rahmen der Förderung durch das Sonderprogramm Umweltwirtschaft wird es in den kommenden Monaten darum gehen, die ersten Qualifizierungen zu konzipieren und durchzuführen. Dafür sind Online- und nach Möglichkeit auch Präsenzkurse zu Themen wie Warenannahme, Sortierung, Elektrogeräte und Ladengestaltung geplant. Daneben wird mit dem Wuppertal Institut die konkrete Zertifizierung vorbereitet. Etwa zehn Unternehmen sollen dann bis Mitte kommenden Jahres das Prozedere durchlaufen und zertifiziert werden. Auch die kreative Ausgestaltung der geplanten Dachmarke sowie gemeinsame Marketingaktivitäten stehen auf dem Programm. Und last but not least sollen erste Schritte mit einem Online-Shop für Mitglieder unternommen werden.

Ein mehr als ambitioniertes Vorhaben, das nach Ablauf der Förderung gewiss nicht zu Ende sein wird, im Gegenteil. Dann geht´s erst richtig los. Aber das stört Claudio Vendramin wenig, er ist ein beharrlicher Netzwerker. „Re-Use hat das Potenzial, das neue Bio zu werden. Denn Ressourcenschutz ist auch Klimaschutz.“

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Das Projekt „WIRD“ wird im Rahmen der Umweltwirtschaftsstrategie des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert. Das Projektteam entwickelt eine Re-Use-Dachmarke mit entsprechender Zertifizierung, um die gemeinwohlorientierte Wiederverwertung von Waren in Deutschland nach einheitlichem Standard voranzubringen. Umweltwirtschaft – Vorsprung für NRW.

Projekt

WIRD – Die Qualitäts- und Kooperationsdachmarke für Wiederverwendungs- und Reparaturzentren in Deutschland

Kontakt

Claudio Vendramin
c.vendramin(at)avoid-unrequested-mailsrecyclingboerse.org

Projektleitung

Arbeitskreis Recycling e.V., Herford / WIR e.V

Projektpartner

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH, Wuppertal

www.wir-d.de